Wir sagen Nein. Stellungnahme des Forum DL21 zum Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD

18. April 2025

Seit der vergangenen Woche liegt der Koalitionsvertrag zwischen SPD und Union vor. Er enthält einige richtige Ansätze – etwa bei der Stabilisierung des Rentenniveaus, der Ausweitung der Tarifbindung oder einem Bekenntnis zu einem Mindestlohn von 15 Euro bis 2026. Angesichts des schlechten Wahlergebnisses der SPD muss festgehalten werden, dass die sozialdemokratischen Verhandler:innen viele Punkte der SPD haben durchsetzen können. Doch der Maßstab, unter dem die Koalition bewertet werden muss, ist nicht der, wie weit sich die SPD in den Verhandlungen hat durchsetzen können. Maßstab einer Regierungskoalition muss sein, inwieweit sie in der Lage ist, die gesellschaftliche Entwicklung politisch zu gestalten. Vor diesem Maßstab stellen wir fest, dass die zu erwartende politische Wirkung dieses Koalitionsvertrages den Herausforderungen unserer Zeit nicht gerecht wird.

Die Union war mit einem Programm des Klassenkampfs von oben in den Wahlkampf gezogen. Mindestanforderung an eine Koalition müsste deshalb sein, dass die SPD soziale Rückschritte verhindert. Doch finden sich auch solche im Koalitionsvertrag. Beispielsweise ist die Abschaffung des Bürgergeldes ein Rückschritt in sozialer Hinsicht. Wenn wieder stärker auf Kontrolle, Sanktion und Arbeitszwang gesetzt wird, erhöht dies bewusst den Druck auf Erwerbslose – aber auch auf alle anderen Beschäftigten: Wenn Menschen damit rechnen müssen, ihren Job zu verlieren und in ein repressives System zu fallen, werden sie sich nicht ohne weiteres trauen, höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen einzufordern. Das nutzt Arbeitgebern – nicht der Gesellschaft. Gleiches gilt für die geplante Abschaffung des Achtstundentages. Auch wenn diese Maßnahme unter dem Schlagwort der Flexibilität angepriesen wird, erhöht sie den Druck auf Beschäftigte, deren Arbeitszeiten dadurch länger werden.

Trotz wachsender Ungleichheit und eines massiven Investitionsbedarfs hat sich die Union der Besteuerung hoher Einkommen, großer Vermögen oder Krisengewinne verweigert. Angesichts ungeklärter Finanzierungsfragen ist deshalb zu erwarten, dass auch unter der kommenden Regierung eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet. Diese Entscheidung ist nicht alternativlos – sie ist politisch gewollt. Und sie widerspricht klar dem Gerechtigkeitsanspruch der Sozialdemokratie.

Die geplante Migrationspolitik setzt vor allem auf Abschottung und Abschreckung statt auf Integration und soziale Teilhabe. Die fast vollständige Abschaffung legaler Fluchtmöglichkeiten – etwa durch die Aussetzung des Familiennachzugs oder die Beendigung der freiwilligen Aufnahmeprogramme – stellt einen Bruch mit humanitären Grundsätzen dar. Menschen, die vor Krieg, Armut oder Perspektivlosigkeit fliehen, brauchen Schutz und Chancen – keine Ausgrenzung.

Auch in gesellschaftlichen Fragen bleibt der Koalitionsvertrag hinter den Erwartungen zurück. Dass sich der Koalitionsvertrag nicht klar zum überfälligen Ziel bekennt, Schwangerschaftsabbrüche aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, ist ein schweres Versäumnis.

Die massive Betonung von Aufrüstung, „Kriegstüchtigkeit“ und Verteidigungsindustrie offenbart eine Militarisierungslogik, die wir als Linke in der Sozialdemokratie nicht mittragen können. Wir stehen für eine aktive Friedenspolitik, für Rüstungskontrolle, Diplomatie und zivile Konfliktlösung.

Die größte Herausforderung an die zukünftige Koalition ist allerdings der Aufstieg rechtsextremer Kräfte. Die AfD, die als politisches Bindeglied zwischen Rechtsextremen, Rechtspopulist:innen und Faschist:innen wirkt, ist bei der Bundestagswahl zweitstärkste Kraft geworden. Mittlerweile liegt sie in Umfragen sogar vor der Union. Währenddessen gibt es Stimmen in der Union, die für einen „normalen Umgang“ mit der AfD oder sogar offen für eine Zusammenarbeit mit ihr werben. Wir sehen deshalb die Gefahr, dass die SPD in dieser Koalition über die gesamte Legislatur erpressbar bleibt – mit dem stillen oder offenen Drohpotenzial: „Wenn Ihr nicht mitmacht, regieren wir eben mit der AfD.“

In diesem Zusammenhang verliert auch das stärkste Argument für eine Koalition aus Union und SPD – dass sie immerhin verhindern würde, dass die Union mit der AfD regiert – an Überzeugungskraft. Denn wenn eine Koalition der SPD mit der Union jetzt bloß eine schwarz-blaue Regierung hinauszögert, ist sie falsch. Richtig wäre eine solches Bündnis allenfalls dann, wenn es eine zukünftige Machtergreifung der AfD verhindert. Angesichts der zu erwartenden politischen Wirkungen dieser Koalition – Rückschritte im Sozialen, mehr Druck auf Beschäftigte, Umverteilung von unten nach oben sowie zu erwartende Konflikte zwischen den Regierungsparteien um eine härtere Gangart in der Migrationspolitik – ist allerdings zu befürchten, dass die AfD sogar noch stärker werden wird. Diesen Weg wollen und dürfen wir nicht beschreiten. Deshalb sagen wir Nein zu dem Koalitionsvertrag von Union und SPD.

Bericht: DL21-Frühjahrstagung am 14./15. März 2025

17. März 2025

Am 14. und 15. März 2025 fand in Nürnberg unserer diesjährige Frühjahrstagung statt, auf der wir uns mit dem Ergebnis der Bundestagswahl, dem verabschiedeten Sondierungspapier und den laufenden Koalitionsverhandlungen befasst haben. Den Auftakt der Tagung bildete am Freitagabend ein Input von Julia Bläsius, Leiterin des Referats Politische Beratung und Impulse der FES. Sie hob dabei einige Besonderheiten dieser Wahl hervor. So sei etwa die Stimmung in der Bevölkerung vor der Wahl auf einem Tiefstand gewesen: eine Mehrheit von 76% sei der Meinung gewesen, die Dinge in Deutschland liefen in die falsche Richtung. Die Kanzlerkandidaten aller Parteien seien so unbeliebt wie nie zuvor gewesen und in den Umfragen habe es seit dem Bruch der Ampelkoalition kaum Bewegung gegeben. Bei der tieferen Analyse des Votums falle auf, dass die SPD bei den Arbeiter:innen herbe Stimmenverluste in Kauf habe nehmen müssen. Julia Bläsius wies in diesem Zusammenhang auf die Veränderung der Arbeiter:innenklasse hin. Sie sei zum einen weiblicher und migrantischer geworden, zum anderen spiele der Dienstleistungssektor dort inzwischen eine größere Rolle. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich diese Klasse inzwischen politisch nicht mehr repräsentiert fühlt.

Mit Blick auf die wichtigsten Themen für die Wahlentscheidung der Menschen stellte Julia Bläsius klar, dass die Frage der Migrationspolitik von den Wähler:innen nur als das viertwichtigste Thema genannt wurde. „Frieden und Sicherheit“, „Wirtschaft“ und „Soziale Gerechtigkeit“ hätten für die Menschen eine größere Bedeutung gehabt.

Ein weiterer zentraler Punkt ihres Inputs war der Wahlerfolg der AfD. In diesem Zusammenhang präsentierte sie die Vorabergebnisse einer Studie für die FES, in der es um den Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein von Daseinsvorsorge und den Stimmen für die AfD geht. Dabei zeige sich, dass überall dort, wo es eine gute Daseinsvorsorge gebe, die Stimmanteile für die AfD geringer seien. Allerdings spiele dieser Zusammenhang in Ostdeutschland eine geringere Rolle. Diese Ergebnisse zeigten auch, wie wichtig es sei, in eine gute Daseinsvorsorge zu investieren. Für die kommende Legislaturperiode und die voraussichtliche Regierungsbeteiligung der SPD schlussfolgerte Julia Bläsius, dass in der Regierung die sozialdemokratische Handschrift sichtbar sein müsse – etwa durch Gute Arbeit, Umverteilung von Oben nach Unten und einen handlungsfähigen Staat. Zudem müsse die SPD ihre Haltung zur Migration klären und eine Lösung finden, die im Einklang mit ihren Grundwerten stehe.

Am Samstag ging es in einer Podiumsdiskussion, an der Parteivorstandsmitglied Sebastian Roloff (MdB), die stellvertretende DL-Vorsitzende und SPD-Bundestagskandidatin Anja König, der bayerische Juso-Vorsitzende Benedict Lang und Heinz Oesterle aus dem Bundesvorstand der AG60+ teilnahmen, um die Lage der SPD und der SPD-Linken nach der Wahl. Die Podiumsteilnehmer:innen berichteten zunächst von ihren Erfahrungen im Wahlkampf, der in den ländlichen Gebieten und vor allem in Ostdeutschland auch von Übergriffen durch AfD-Anhänger gekennzeichnet war. Sie berichteten außerdem davon, wie schwierig es teilweise gewesen sei, Mitglieder für den aktiven Wahlkampf zu motivieren. Das schlechte Abschneiden der SPD wurde vor allem damit erklärt, dass die Partei in den vergangenen Jahren zu weit nach rechts gerückt sei. Mit Blick auf die Koalitionsverhandlungen und den bevorstehenden Mitgliederentscheid wurde kritisiert, dass es nur die Möglichkeit geben werde, diesem zuzustimmen oder ihn abzulehnen, obwohl es theoretisch auch möglich sei, diesen abzulehnen und Nachverhandlungen zu fordern. Dieser Punkt wurde auch von den anwesenden Tagungsteilnehmer:innen bemängelt. In der Diskussion im Plenum dominierten vor allem die Themen Migration, Frieden und Soziales. Die Teilnehmer:innen zeigten sich von den Ergebnissen der Sondierungsgespräche vor allem in diesen Politikfeldern enttäuscht. Eine Verschärfung im Bereich der Migrationspolitik lehnten sie durchgehend ab und bedauerten, dass sich die SPD dieses Thema im Wahlkampf habe „aufdrängen lassen“. Die SPD hätte sich ihrer Meinung nach dieser Debatte entgegenstellen müssen. Mit Sorge blickten viele der Anwesenden auch auf die anstehenden Mehrausgaben für Verteidigung und forderten, stattdessen müsse eine neue Ära der Abrüstung initiiert werden. Kritisch wurde auch die angestrebte Ausweitung der Arbeitszeit und die Verschärfung der Sanktionen für Bürgergeldbezieher:innen gesehen. Ein weiteres Thema, das in der Diskussion breiten Raum einnahm, war die geplante Grundgesetzänderung zur Schuldenbremse. Hier wurde zum einen bemängelt, dass diese nur für Verteidigungsausgaben ausgesetzt werden solle. Zum anderen wurde aber auch breite Kritik daran geübt, dass die Abstimmung darüber noch im alten Bundestag erfolgen solle.

Schließlich haben wir ausgiebig über eine Stellungnahme zum Sondierungsergebnis debattiert. Zentral war dabei die Feststellung, dass wir als SPD wieder einen Klassenstandpunkt einnehmen und die Interessen der Menschen vertreten müssen, die von Lohnarbeit abhängig sind oder waren, eine Lohnarbeit suchen oder unbezahlte Sorgearbeit leisten. Einen Klassenkampf von oben, wie er von der Union unter Friedrich Merz angestrebt wird, dürfen wir dagegen als SPD nicht mittragen. Die Stellungnahme findet ihr hier.

Keine Kompromisse bei sozialer Gerechtigkeit und Grundrechten: Die SPD braucht einen Klassenstandpunkt

17. März 2025

Stellungnahme des Forum DL21 zu den Sondierungsgesprächen zwischen SPD und Unionsparteien

Die SPD hat bei den Bundestagswahlen ihr historisch schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl erzielt. Nach so einem Wahlergebnis braucht es konstruktive und rücksichtslose, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik und kein Hinüberretten in die Regierung. Das Ergebnis der Bundestagswahl stellt die SPD dabei vor eine schwierige Abwägung. Denn neben einer Mehrheit aus Union und SPD und einer rechnerisch möglichen, politisch aber unplausiblen Mehrheit von Union, Grünen und Linken, steht der Union die Möglichkeit offen, eine Regierung mit der AfD zu bilden. Friedrich Merz und die Union haben durch eine gemeinsame Abstimmung mit der AfD im Vorfeld der Bundestagswahl bewiesen, dass sie zu einem solchen Schritt grundsätzlich bereit sind. Das Szenario der ersten Regierungsbeteiligung einer rechtsextremen Partei in der Bundesrepublik ist somit eine realistische Gefahr. Nichtsdestoweniger kann dieses Droh-Szenario allein nicht zur Rechtfertigung einer gemeinsamen Regierung aus Union und SPD um jeden Preis dienen. Der Maßstab einer Regierungsbeteiligung der SPD muss auch weiterhin sein, ob eine solche Regierung den Interessen der Menschen dient, deren politische Vertretung die SPD ist – oder sein sollte.

Die Ergebnisse der Bundestagswahl haben eine signifikante Wähler:innenwanderung von  Arbeiter:innen (und auch Angestellten) weg von der SPD und hin zur AfD gezeigt. Nur noch 12% (-14) der Arbeiter:innen gaben der SPD ihre Stimme. Die AfD erzielte dagegen mit 38% (+17) die höchsten Stimmanteile bei den Arbeiter:innen. Die Nachwahlbefragungen zeigen, dass die eigentliche „Arbeiter:innenpartei“ SPD von den Menschen nicht mehr als solche wahrgenommen wird. 52% der Wähler:innen und 46% der ehemaligen SPD-Wähler:innen erklärten, die SPD vernachlässige die Interessen der Arbeitnehmer:innen. Bei der Frage nach Kompetenzzuschreibungen haben nur 26% der Befragten angegeben, dass die SPD auf dem Feld der sozialen Gerechtigkeit Kompetenzen besitze. Das ist ein Minus von 14 Prozentpunkten.

Das Wahlergebnis hat verdeutlicht, was schon lange in der Parteienforschung diskutiert wird: Die Übernahme rechter Positionen im Diskurs über Fragen von Migration und Sicherheit stärkt am Ende ausschließlich rechte Parteien. Das hat die Wähler:innen-Wanderung von der SPD zur Union, aber auch von der Union zur AfD gezeigt: Wenn alle Parteien darüber diskutieren, wer am meisten abschiebt, profitieren davon nur rechtsextreme Parteien. Von den Debatten um Aufrüstung und Krieg haben auch rechtsextreme Parteien profitiert. Die weltweite Zunahme von Kriegen und bewaffneten Konflikten ruft bei vielen Menschen Unsicherheit hervor. Eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben wird auch damit begründet, dieser Unsicherheit zu begegnen. Tatsächlich sorgen mehr Waffen aber nicht für mehr Sicherheit, sondern erhöhen die Gefahr, dass Kriege ausbrechen. Der Paradigmenwechsel von einer Friedens- und Verständigungspolitik zu einem Streben nach „Kriegstüchtigkeit“ und Militarisierung ist gegen die Interessen der Bevölkerung. Wir stehen zu einer regelbasierten internationalen Ordnung mit dem Primat der Diplomatie und der nichtmilitärischen Konfliktlösung.

Diese Bundestagswahlen haben im Bundestag eine Mehrheit rechter und konservativer Parteien zustande gebracht: Diese Mehrheit ist auch das Ergebnis der politischen Entwicklungen der letzten Jahre. Fortschrittliche und linke Kräfte haben es zugelassen, dass sich soziale Konflikte immer weiter zugespitzt haben. In Reaktion darauf haben es rechte Kräfte vermocht, die daraus resultierende Enttäuschung und Wut umzuleiten auf Schwächere: Geflüchtete, Bürgergeldbezieher:innen und andere haben als Sündenböcke herhalten müssen, auf die sich der angestaute Frust entladen konnte. Aufgabe fortschrittlicher Kräfte muss es sein, die wirklichen Ursachen dieser Konflikte zu benennen und ihre Ursachen zu beseitigen.

Auch deshalb ist es die Aufgabe der SPD, einen klaren Klassenstandpunkt für die Arbeit einzunehmen. Sie muss diejenigen ernstnehmen, die sich von der Sozialdemokratie im Stich gelassen, nicht mehr von ihr vertreten fühlen und unmissverständlich klarmachen, wessen politische Interessen sie politisch organisieren und durchsetzen will – und wessen nicht. Das bedeutet, Politik im Sinne der Menschen zu machen, die von Lohnarbeit abhängig sind oder waren, die eine Lohnarbeit suchen oder mittelbar von einer abhängig sind, weil sie unbezahlte Sorgearbeit leisten. Aus dieser Perspektive müssen unsere konkreten politischen Positionen abgeleitet werden.

Bezahlbare Mieten, eine auskömmliche Rente, höhere Löhne, mehr Demokratie in der Arbeitswelt, eine klare Regelung von Arbeitszeiten, der Ausbau eines bezahlbaren ÖPNV sowie des Schienenfernverkehrs, gute und verlässliche Bildung und Kinderbetreuung sind ebenso im Interesse der arbeitenden Menschen wie der gesamten Bevölkerung. Politik im Sinne der arbeitenden Menschen muss sich auch einer immer weitergehenden Aufrüstung entgegenstellen. Es sind die arbeitenden Menschen, die in diesen Kriegen fallen und unter ihnen leiden – auf allen Seiten. Der Weg zur Kriegstüchtigkeit ist deshalb nicht im Interesse der arbeitenden Menschen. In ihrem Sinne ist ein Weg der Rüstungskontrolle und Abrüstung, der Diplomatie und Verhandlungen, um gegenwärtige Kriege zu beenden und kommende zu verhindern.

Diese politische Ausrichtung an den Interessen der arbeitenden Klasse ist auch im Interesse der Bevölkerungsmehrheit, endet aber nicht in derselben politischen Beliebigkeit und opportunistischen Orientierung an vermeintlichen Erkenntnissen von Meinungsforschungs-Instituten. Das haben auch die Ansätze der vergangenen Jahre gezeigt, Politik “für die Mitte” zu machen. Sowohl die Union als auch die SPD haben für sich beansprucht, die politische Vertretung der gesellschaftlichen “Mitte” zu sein, daraus aber gänzlich andere politische Schlussfolgerungen gezogen. Für die SPD muss das Ergebnis dieser Bundestagswahlen heißen, den eigenen politischen Standpunkt als Partei der arbeitenden Menschen herauszuarbeiten, also einen konsequenten Klassenstandpunkt einzunehmen.

Eine gemeinsame Regierung mit der Union, die sich an dem jetzt vorliegenden Ergebnis der Sondierungen ausrichtet, wird diesem Ziel aber nicht gerecht. Denn die Union nimmt sehr wohl einen Klassenstandpunkt ein, das haben ihre Vertreter:innen vor und nach den Bundestagswahlen gezeigt: Das Programm der Union unter Friedrich Merz ist das eines Klassenkampfs von oben. Es richtet sich gegen arbeitende Menschen, Familien und Mieter:innen, gegen die Mehrheit der Bevölkerung.  Sie wollen ein Steuerprogramm umsetzen, bei dem Spitzenverdiener:innen profitieren, das Bürgergeld abschaffen und Sanktionen für Leistungsbezieher:innen bis hin zur Wiedereinführung des vollständigen Leistungsentzugs verschärfen, die Arbeitszeiten ausweiten und die unsolidarische private Krankenversicherung ausbauen.

Die SPD darf dieses Programm des Klassenkampfs von oben nicht in einer Regierung mittragen, sondern muss sich ihm entgegensetzen. Das Mindeste ist es zu verhindern, dass die Union ihr Programm des Klassenkampfs von oben durchsetzen kann. Die Wahlergebnisse geben eine Regierungsmehrheit im Interesse der arbeitenden Menschen nicht her und machen es schwer, Programmpunkte der SPD umzusetzen. Vor diesem Hintergrund gibt es einige Punkte im Sondierungspapier, die positiv zu erwähnen sind. Dazu gehören

  • ein Mindestlohn von 15 Euro, ein Schritt in die richtige Richtung,
  • Sicherung des Rentenniveaus, das als erster Schritt zur Rückkehr zur Lebensstandardsicherung gelten muss,
  • das Bekenntnis zu einer höheren Tarifbindung und einem Tariftreuegesetz,
  • Lockerung der Schuldenbremse für die Länder,
  • ein Sondervermögen für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur von 500 Mrd. Euro,
  • Wiedereinführung der Sprachkitaprogramme,
  • Fortführung des Start-Chancen-Programms oder
  • ein Gewaltschutzgesetz für Frauen und Kinder.

Der kleinstmögliche Maßstab einer Regierungsbeteiligung der SPD muss nichtsdestoweniger sein, alle Maßnahmen abzuwehren, die gegen die Interessen der arbeitenden Menschen gerichtet sind und ihre Arbeits- und Lebensbedingungen verschlechtern. Im Sondierungsergebnis finden sich aber solche Maßnahmen oder Punkte, die jedenfalls die Gefahr dazu bergen.     

  • Zusätzliche Investitionen in Infrastruktur und Klimaschutz sind ein wichtiger Erfolg. Allerdings lehnen wir eine im Grundgesetz verankerte Ausnahme von den Regelungen der Schuldenbremse ausschließlich für Verteidigungsausgaben ab, während die Schuldenbremse insgesamt erst zukünftig reformiert werden soll. Wir benötigen langfristig eine makroökonomisch sinnvolle Lösung auf EU-Ebene.         
  • Die Einführung einer wöchentlichen statt einer täglichen Höchstarbeitszeit dreht mühsam erkämpfte Fortschritte zurück und schränkt die Rechte und Interessen von Beschäftigten ein. Gewerkschaften, Sozialdemokrat:innen und Sozialist:innen haben den Achtstundentag über Generationen hinweg erkämpft. Er schützt diejenigen, die nach acht Stunden Arbeit endlich Feierabend machen wollen – und hindert niemanden, länger zu arbeiten, wenn sie das wirklich freiwillig tun.
  • Die Einführung eines Vermittlungsvorrangs vor Qualifizierung  dreht wichtige Fortschritte im Bürgergeld zurück. Die Verschärfung der Sanktionen bis hin zur Wiedereinführung des vollständigen Leistungsentzugs baut Druck an der falschen Stelle auf.  Wir wissen, dass die wahren leistungslosen Nutznießer:innen auf Staatskosten Superreiche sind, die den Fiskus jährlich um über 100 Mrd. (!) Euro Steuereinnahmen durch Steuerhinterziehung bringen. Wer kein Wort hierüber verliert, sondern nur über ca. 15.000 Menschen im Bürgergeld, die wegen verschiedenster Probleme und Hemmnisse als “Totalverweigerer” erscheinen, der will nur nach unten treten.
  • Im Sondierungspapier wird Migration weitgehend negativ aufgefasst, sie soll begrenzt, zurückgewiesen und rückgeführt werden. Diese Schlagseite ist in den Verhandlungen zu korrigieren – wir brauchen Anstrengungen, um eine Willkommenskultur in Deutschland zu fördern und den Menschen, die hier ankommen, eine echte Chance zu geben. Eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts mit der Möglichkeit, die deutsche Staatsbürgerschaft wieder zu entziehen, wäre verfassungswidrig und unanständig. Zurückweisungen von Asylsuchenden an den Grenzen sind rechtswidrig und menschenverachten,  ebenso wie die Aussetzung des Familiennachzugs, eine Abschaffung des verpflichtend beigestellten Rechtsbeistandes vor der Durchsetzung der Abschiebung, die deutschlandweite Einführung der Bezahlkarte, Abschiebungen in nicht sichere Herkunftsländer (Afghanistan und Syrien) oder die Beendigung der freiwilligen Aufnahmeprogramme.

Die SPD hat nicht die Aufgabe, die Interessen der Reichen und Mächtigen zu vertreten. Diejenigen, die nicht arbeiten müssen, weil sie andere für sich arbeiten lassen und von den Dividenden dieser Arbeit leben können, sind nicht auf die Sozialdemokratie angewiesen, um ihre Interessen vertreten zu wissen. Sie brauchen die SPD nicht, um ihre unsozialen Steuervermeidungstaktiken noch weiter auszubauen.

Die Reichen und Mächtigen haben ihre politische Interessenvertretung unter anderem in CDU und CSU. Sie erwarten sich berechtigterweise von einer Regierung unter Unionsbeteiligung, dass ihre Interessen befördert werden. Das darf aber nicht die Sache der Sozialdemokratie sein. Die SPD darf nicht in eine Koalition eintreten, um Beschäftigtenrechte einzuschränken, Reallöhne zu senken, das Asylrecht zu verschärfen, die Aufrüstung voranzutreiben, das Bürgergeld zu kürzen und Steuern für Menschen mit sehr hohen Einkommen und Vermögen zu senken. Stattdessen braucht es eine Regierung, die die Reichen stärker für die Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben heranzieht und für eine solidarische Umverteilung sorgt.

Das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen, die nach den Sondierungen nun aufgenommen werden, muss deshalb anders aussehen als das Ergebnis der Sondierungen.  Es ist Aufgabe der Linken in der Sozialdemokratie, darauf hinzuwirken.

Darüber hinaus braucht es eine politische Strategie zur Erringung gesellschaftlicher und parlamentarischer Mehrheiten für eine andere Politik.

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