Seit der vergangenen Woche liegt der Koalitionsvertrag zwischen SPD und Union vor. Er enthält einige richtige Ansätze – etwa bei der Stabilisierung des Rentenniveaus, der Ausweitung der Tarifbindung oder einem Bekenntnis zu einem Mindestlohn von 15 Euro bis 2026. Angesichts des schlechten Wahlergebnisses der SPD muss festgehalten werden, dass die sozialdemokratischen Verhandler:innen viele Punkte der SPD haben durchsetzen können. Doch der Maßstab, unter dem die Koalition bewertet werden muss, ist nicht der, wie weit sich die SPD in den Verhandlungen hat durchsetzen können. Maßstab einer Regierungskoalition muss sein, inwieweit sie in der Lage ist, die gesellschaftliche Entwicklung politisch zu gestalten. Vor diesem Maßstab stellen wir fest, dass die zu erwartende politische Wirkung dieses Koalitionsvertrages den Herausforderungen unserer Zeit nicht gerecht wird.
Die Union war mit einem Programm des Klassenkampfs von oben in den Wahlkampf gezogen. Mindestanforderung an eine Koalition müsste deshalb sein, dass die SPD soziale Rückschritte verhindert. Doch finden sich auch solche im Koalitionsvertrag. Beispielsweise ist die Abschaffung des Bürgergeldes ein Rückschritt in sozialer Hinsicht. Wenn wieder stärker auf Kontrolle, Sanktion und Arbeitszwang gesetzt wird, erhöht dies bewusst den Druck auf Erwerbslose – aber auch auf alle anderen Beschäftigten: Wenn Menschen damit rechnen müssen, ihren Job zu verlieren und in ein repressives System zu fallen, werden sie sich nicht ohne weiteres trauen, höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen einzufordern. Das nutzt Arbeitgebern – nicht der Gesellschaft. Gleiches gilt für die geplante Abschaffung des Achtstundentages. Auch wenn diese Maßnahme unter dem Schlagwort der Flexibilität angepriesen wird, erhöht sie den Druck auf Beschäftigte, deren Arbeitszeiten dadurch länger werden.
Trotz wachsender Ungleichheit und eines massiven Investitionsbedarfs hat sich die Union der Besteuerung hoher Einkommen, großer Vermögen oder Krisengewinne verweigert. Angesichts ungeklärter Finanzierungsfragen ist deshalb zu erwarten, dass auch unter der kommenden Regierung eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet. Diese Entscheidung ist nicht alternativlos – sie ist politisch gewollt. Und sie widerspricht klar dem Gerechtigkeitsanspruch der Sozialdemokratie.
Die geplante Migrationspolitik setzt vor allem auf Abschottung und Abschreckung statt auf Integration und soziale Teilhabe. Die fast vollständige Abschaffung legaler Fluchtmöglichkeiten – etwa durch die Aussetzung des Familiennachzugs oder die Beendigung der freiwilligen Aufnahmeprogramme – stellt einen Bruch mit humanitären Grundsätzen dar. Menschen, die vor Krieg, Armut oder Perspektivlosigkeit fliehen, brauchen Schutz und Chancen – keine Ausgrenzung.
Auch in gesellschaftlichen Fragen bleibt der Koalitionsvertrag hinter den Erwartungen zurück. Dass sich der Koalitionsvertrag nicht klar zum überfälligen Ziel bekennt, Schwangerschaftsabbrüche aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, ist ein schweres Versäumnis.
Die massive Betonung von Aufrüstung, „Kriegstüchtigkeit“ und Verteidigungsindustrie offenbart eine Militarisierungslogik, die wir als Linke in der Sozialdemokratie nicht mittragen können. Wir stehen für eine aktive Friedenspolitik, für Rüstungskontrolle, Diplomatie und zivile Konfliktlösung.
Die größte Herausforderung an die zukünftige Koalition ist allerdings der Aufstieg rechtsextremer Kräfte. Die AfD, die als politisches Bindeglied zwischen Rechtsextremen, Rechtspopulist:innen und Faschist:innen wirkt, ist bei der Bundestagswahl zweitstärkste Kraft geworden. Mittlerweile liegt sie in Umfragen sogar vor der Union. Währenddessen gibt es Stimmen in der Union, die für einen „normalen Umgang“ mit der AfD oder sogar offen für eine Zusammenarbeit mit ihr werben. Wir sehen deshalb die Gefahr, dass die SPD in dieser Koalition über die gesamte Legislatur erpressbar bleibt – mit dem stillen oder offenen Drohpotenzial: „Wenn Ihr nicht mitmacht, regieren wir eben mit der AfD.“
In diesem Zusammenhang verliert auch das stärkste Argument für eine Koalition aus Union und SPD – dass sie immerhin verhindern würde, dass die Union mit der AfD regiert – an Überzeugungskraft. Denn wenn eine Koalition der SPD mit der Union jetzt bloß eine schwarz-blaue Regierung hinauszögert, ist sie falsch. Richtig wäre eine solches Bündnis allenfalls dann, wenn es eine zukünftige Machtergreifung der AfD verhindert. Angesichts der zu erwartenden politischen Wirkungen dieser Koalition – Rückschritte im Sozialen, mehr Druck auf Beschäftigte, Umverteilung von unten nach oben sowie zu erwartende Konflikte zwischen den Regierungsparteien um eine härtere Gangart in der Migrationspolitik – ist allerdings zu befürchten, dass die AfD sogar noch stärker werden wird. Diesen Weg wollen und dürfen wir nicht beschreiten. Deshalb sagen wir Nein zu dem Koalitionsvertrag von Union und SPD.