Stellungnahme des Forum DL21 zu den Sondierungsgesprächen zwischen SPD und Unionsparteien
Die SPD hat bei den Bundestagswahlen ihr historisch schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl erzielt. Nach so einem Wahlergebnis braucht es konstruktive und rücksichtslose, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik und kein Hinüberretten in die Regierung. Das Ergebnis der Bundestagswahl stellt die SPD dabei vor eine schwierige Abwägung. Denn neben einer Mehrheit aus Union und SPD und einer rechnerisch möglichen, politisch aber unplausiblen Mehrheit von Union, Grünen und Linken, steht der Union die Möglichkeit offen, eine Regierung mit der AfD zu bilden. Friedrich Merz und die Union haben durch eine gemeinsame Abstimmung mit der AfD im Vorfeld der Bundestagswahl bewiesen, dass sie zu einem solchen Schritt grundsätzlich bereit sind. Das Szenario der ersten Regierungsbeteiligung einer rechtsextremen Partei in der Bundesrepublik ist somit eine realistische Gefahr. Nichtsdestoweniger kann dieses Droh-Szenario allein nicht zur Rechtfertigung einer gemeinsamen Regierung aus Union und SPD um jeden Preis dienen. Der Maßstab einer Regierungsbeteiligung der SPD muss auch weiterhin sein, ob eine solche Regierung den Interessen der Menschen dient, deren politische Vertretung die SPD ist – oder sein sollte.
Die Ergebnisse der Bundestagswahl haben eine signifikante Wähler:innenwanderung von Arbeiter:innen (und auch Angestellten) weg von der SPD und hin zur AfD gezeigt. Nur noch 12% (-14) der Arbeiter:innen gaben der SPD ihre Stimme. Die AfD erzielte dagegen mit 38% (+17) die höchsten Stimmanteile bei den Arbeiter:innen. Die Nachwahlbefragungen zeigen, dass die eigentliche „Arbeiter:innenpartei“ SPD von den Menschen nicht mehr als solche wahrgenommen wird. 52% der Wähler:innen und 46% der ehemaligen SPD-Wähler:innen erklärten, die SPD vernachlässige die Interessen der Arbeitnehmer:innen. Bei der Frage nach Kompetenzzuschreibungen haben nur 26% der Befragten angegeben, dass die SPD auf dem Feld der sozialen Gerechtigkeit Kompetenzen besitze. Das ist ein Minus von 14 Prozentpunkten.
Das Wahlergebnis hat verdeutlicht, was schon lange in der Parteienforschung diskutiert wird: Die Übernahme rechter Positionen im Diskurs über Fragen von Migration und Sicherheit stärkt am Ende ausschließlich rechte Parteien. Das hat die Wähler:innen-Wanderung von der SPD zur Union, aber auch von der Union zur AfD gezeigt: Wenn alle Parteien darüber diskutieren, wer am meisten abschiebt, profitieren davon nur rechtsextreme Parteien. Von den Debatten um Aufrüstung und Krieg haben auch rechtsextreme Parteien profitiert. Die weltweite Zunahme von Kriegen und bewaffneten Konflikten ruft bei vielen Menschen Unsicherheit hervor. Eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben wird auch damit begründet, dieser Unsicherheit zu begegnen. Tatsächlich sorgen mehr Waffen aber nicht für mehr Sicherheit, sondern erhöhen die Gefahr, dass Kriege ausbrechen. Der Paradigmenwechsel von einer Friedens- und Verständigungspolitik zu einem Streben nach „Kriegstüchtigkeit“ und Militarisierung ist gegen die Interessen der Bevölkerung. Wir stehen zu einer regelbasierten internationalen Ordnung mit dem Primat der Diplomatie und der nichtmilitärischen Konfliktlösung.
Diese Bundestagswahlen haben im Bundestag eine Mehrheit rechter und konservativer Parteien zustande gebracht: Diese Mehrheit ist auch das Ergebnis der politischen Entwicklungen der letzten Jahre. Fortschrittliche und linke Kräfte haben es zugelassen, dass sich soziale Konflikte immer weiter zugespitzt haben. In Reaktion darauf haben es rechte Kräfte vermocht, die daraus resultierende Enttäuschung und Wut umzuleiten auf Schwächere: Geflüchtete, Bürgergeldbezieher:innen und andere haben als Sündenböcke herhalten müssen, auf die sich der angestaute Frust entladen konnte. Aufgabe fortschrittlicher Kräfte muss es sein, die wirklichen Ursachen dieser Konflikte zu benennen und ihre Ursachen zu beseitigen.
Auch deshalb ist es die Aufgabe der SPD, einen klaren Klassenstandpunkt für die Arbeit einzunehmen. Sie muss diejenigen ernstnehmen, die sich von der Sozialdemokratie im Stich gelassen, nicht mehr von ihr vertreten fühlen und unmissverständlich klarmachen, wessen politische Interessen sie politisch organisieren und durchsetzen will – und wessen nicht. Das bedeutet, Politik im Sinne der Menschen zu machen, die von Lohnarbeit abhängig sind oder waren, die eine Lohnarbeit suchen oder mittelbar von einer abhängig sind, weil sie unbezahlte Sorgearbeit leisten. Aus dieser Perspektive müssen unsere konkreten politischen Positionen abgeleitet werden.
Bezahlbare Mieten, eine auskömmliche Rente, höhere Löhne, mehr Demokratie in der Arbeitswelt, eine klare Regelung von Arbeitszeiten, der Ausbau eines bezahlbaren ÖPNV sowie des Schienenfernverkehrs, gute und verlässliche Bildung und Kinderbetreuung sind ebenso im Interesse der arbeitenden Menschen wie der gesamten Bevölkerung. Politik im Sinne der arbeitenden Menschen muss sich auch einer immer weitergehenden Aufrüstung entgegenstellen. Es sind die arbeitenden Menschen, die in diesen Kriegen fallen und unter ihnen leiden – auf allen Seiten. Der Weg zur Kriegstüchtigkeit ist deshalb nicht im Interesse der arbeitenden Menschen. In ihrem Sinne ist ein Weg der Rüstungskontrolle und Abrüstung, der Diplomatie und Verhandlungen, um gegenwärtige Kriege zu beenden und kommende zu verhindern.
Diese politische Ausrichtung an den Interessen der arbeitenden Klasse ist auch im Interesse der Bevölkerungsmehrheit, endet aber nicht in derselben politischen Beliebigkeit und opportunistischen Orientierung an vermeintlichen Erkenntnissen von Meinungsforschungs-Instituten. Das haben auch die Ansätze der vergangenen Jahre gezeigt, Politik “für die Mitte” zu machen. Sowohl die Union als auch die SPD haben für sich beansprucht, die politische Vertretung der gesellschaftlichen “Mitte” zu sein, daraus aber gänzlich andere politische Schlussfolgerungen gezogen. Für die SPD muss das Ergebnis dieser Bundestagswahlen heißen, den eigenen politischen Standpunkt als Partei der arbeitenden Menschen herauszuarbeiten, also einen konsequenten Klassenstandpunkt einzunehmen.
Eine gemeinsame Regierung mit der Union, die sich an dem jetzt vorliegenden Ergebnis der Sondierungen ausrichtet, wird diesem Ziel aber nicht gerecht. Denn die Union nimmt sehr wohl einen Klassenstandpunkt ein, das haben ihre Vertreter:innen vor und nach den Bundestagswahlen gezeigt: Das Programm der Union unter Friedrich Merz ist das eines Klassenkampfs von oben. Es richtet sich gegen arbeitende Menschen, Familien und Mieter:innen, gegen die Mehrheit der Bevölkerung. Sie wollen ein Steuerprogramm umsetzen, bei dem Spitzenverdiener:innen profitieren, das Bürgergeld abschaffen und Sanktionen für Leistungsbezieher:innen bis hin zur Wiedereinführung des vollständigen Leistungsentzugs verschärfen, die Arbeitszeiten ausweiten und die unsolidarische private Krankenversicherung ausbauen.
Die SPD darf dieses Programm des Klassenkampfs von oben nicht in einer Regierung mittragen, sondern muss sich ihm entgegensetzen. Das Mindeste ist es zu verhindern, dass die Union ihr Programm des Klassenkampfs von oben durchsetzen kann. Die Wahlergebnisse geben eine Regierungsmehrheit im Interesse der arbeitenden Menschen nicht her und machen es schwer, Programmpunkte der SPD umzusetzen. Vor diesem Hintergrund gibt es einige Punkte im Sondierungspapier, die positiv zu erwähnen sind. Dazu gehören
- ein Mindestlohn von 15 Euro, ein Schritt in die richtige Richtung,
- Sicherung des Rentenniveaus, das als erster Schritt zur Rückkehr zur Lebensstandardsicherung gelten muss,
- das Bekenntnis zu einer höheren Tarifbindung und einem Tariftreuegesetz,
- Lockerung der Schuldenbremse für die Länder,
- ein Sondervermögen für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur von 500 Mrd. Euro,
- Wiedereinführung der Sprachkitaprogramme,
- Fortführung des Start-Chancen-Programms oder
- ein Gewaltschutzgesetz für Frauen und Kinder.
Der kleinstmögliche Maßstab einer Regierungsbeteiligung der SPD muss nichtsdestoweniger sein, alle Maßnahmen abzuwehren, die gegen die Interessen der arbeitenden Menschen gerichtet sind und ihre Arbeits- und Lebensbedingungen verschlechtern. Im Sondierungsergebnis finden sich aber solche Maßnahmen oder Punkte, die jedenfalls die Gefahr dazu bergen.
- Zusätzliche Investitionen in Infrastruktur und Klimaschutz sind ein wichtiger Erfolg. Allerdings lehnen wir eine im Grundgesetz verankerte Ausnahme von den Regelungen der Schuldenbremse ausschließlich für Verteidigungsausgaben ab, während die Schuldenbremse insgesamt erst zukünftig reformiert werden soll. Wir benötigen langfristig eine makroökonomisch sinnvolle Lösung auf EU-Ebene.
- Die Einführung einer wöchentlichen statt einer täglichen Höchstarbeitszeit dreht mühsam erkämpfte Fortschritte zurück und schränkt die Rechte und Interessen von Beschäftigten ein. Gewerkschaften, Sozialdemokrat:innen und Sozialist:innen haben den Achtstundentag über Generationen hinweg erkämpft. Er schützt diejenigen, die nach acht Stunden Arbeit endlich Feierabend machen wollen – und hindert niemanden, länger zu arbeiten, wenn sie das wirklich freiwillig tun.
- Die Einführung eines Vermittlungsvorrangs vor Qualifizierung dreht wichtige Fortschritte im Bürgergeld zurück. Die Verschärfung der Sanktionen bis hin zur Wiedereinführung des vollständigen Leistungsentzugs baut Druck an der falschen Stelle auf. Wir wissen, dass die wahren leistungslosen Nutznießer:innen auf Staatskosten Superreiche sind, die den Fiskus jährlich um über 100 Mrd. (!) Euro Steuereinnahmen durch Steuerhinterziehung bringen. Wer kein Wort hierüber verliert, sondern nur über ca. 15.000 Menschen im Bürgergeld, die wegen verschiedenster Probleme und Hemmnisse als “Totalverweigerer” erscheinen, der will nur nach unten treten.
- Im Sondierungspapier wird Migration weitgehend negativ aufgefasst, sie soll begrenzt, zurückgewiesen und rückgeführt werden. Diese Schlagseite ist in den Verhandlungen zu korrigieren – wir brauchen Anstrengungen, um eine Willkommenskultur in Deutschland zu fördern und den Menschen, die hier ankommen, eine echte Chance zu geben. Eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts mit der Möglichkeit, die deutsche Staatsbürgerschaft wieder zu entziehen, wäre verfassungswidrig und unanständig. Zurückweisungen von Asylsuchenden an den Grenzen sind rechtswidrig und menschenverachten, ebenso wie die Aussetzung des Familiennachzugs, eine Abschaffung des verpflichtend beigestellten Rechtsbeistandes vor der Durchsetzung der Abschiebung, die deutschlandweite Einführung der Bezahlkarte, Abschiebungen in nicht sichere Herkunftsländer (Afghanistan und Syrien) oder die Beendigung der freiwilligen Aufnahmeprogramme.
Die SPD hat nicht die Aufgabe, die Interessen der Reichen und Mächtigen zu vertreten. Diejenigen, die nicht arbeiten müssen, weil sie andere für sich arbeiten lassen und von den Dividenden dieser Arbeit leben können, sind nicht auf die Sozialdemokratie angewiesen, um ihre Interessen vertreten zu wissen. Sie brauchen die SPD nicht, um ihre unsozialen Steuervermeidungstaktiken noch weiter auszubauen.
Die Reichen und Mächtigen haben ihre politische Interessenvertretung unter anderem in CDU und CSU. Sie erwarten sich berechtigterweise von einer Regierung unter Unionsbeteiligung, dass ihre Interessen befördert werden. Das darf aber nicht die Sache der Sozialdemokratie sein. Die SPD darf nicht in eine Koalition eintreten, um Beschäftigtenrechte einzuschränken, Reallöhne zu senken, das Asylrecht zu verschärfen, die Aufrüstung voranzutreiben, das Bürgergeld zu kürzen und Steuern für Menschen mit sehr hohen Einkommen und Vermögen zu senken. Stattdessen braucht es eine Regierung, die die Reichen stärker für die Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben heranzieht und für eine solidarische Umverteilung sorgt.
Das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen, die nach den Sondierungen nun aufgenommen werden, muss deshalb anders aussehen als das Ergebnis der Sondierungen. Es ist Aufgabe der Linken in der Sozialdemokratie, darauf hinzuwirken.
Darüber hinaus braucht es eine politische Strategie zur Erringung gesellschaftlicher und parlamentarischer Mehrheiten für eine andere Politik.